AMNOG-Report 2024: Blinde Flecken im AMNOG-Markt
Das AMNOG und die damit eingeführte frühe Nutzenbewertung und Preisbildung neuer Arzneimittel sind ein inzwischen fest verankertes und weitestgehend funktionsfähiges lernendes System. Seit seiner Einführung im Jahr 2011 hat das Verfahren bereits zahlreiche gesetzliche und untergesetzliche Änderungen erfahren. Mit dem im Herbst 2022 verabschiedete GKV-Finanzstabilisierungsgesetz (GKV-FinStG) wurden weitreichende strukturelle Änderungen am etablierten AMNOG-Verfahren eingeführt.
Die wichtigsten Informationen haben wir auf dieser Website für Sie zusammengefasst. Den Gesamtreport können Sie am Ende der Seite als PDF herunterladen.
Die Ergebnisse im Überblick
Ausgaben für patentgeschützte Arzneimittel deutlich gestiegen
Die Ausgaben für patentgeschützte Arzneimittel sind GKV-weit in den Monaten Februar bis April 2024 gegenüber dem gleichen Zeitraum in 2023 substanziell um 18 % gestiegen. Gegenüber dem Vergleichszeitraum des Jahres 2022 beträgt das Plus sogar 37 % (Kernergebnis 1). Der Ausgabenzuwachs ist dabei nicht einzig durch den reduzierten Herstellerabschlag ab Januar 2024 (-5 Prozentpunkte) zu erklären. Gleichzeitig rufen pharmazeutische Unternehmer für Marktneueinführungen im Jahr 2023 so hohe Preise wie nie zuvor auf: Die durchschnittlichen Jahrestherapiekosten pro Patient und Jahr liegen bei knapp 400.000 Euro.
Als Weiterentwicklung des AMNOG-Verfahrens und um diesen Ausgaben- und Preisentwicklungen Rechnung zu tragen wurden zuletzt im Jahr 2022 verschiedene Maßnahmen eingeführt, welche aus verschiedenen Gründen immer noch für Kontroverse sorgen. Ein kritischer Blick auf die jüngsten Reformvorhaben erscheint insofern dringend geboten. Der DAK-AMNOG-Report bietet hierzu eine Plattform.
Umsatzschwelle für Arzneimittel zur Behandlung seltener Leiden (Orphan Drugs)
Unklar ist beispielsweise, ob sich negative Effekte für die Patientenversorgung ergeben haben. So ist zum Beispiel unklar, ob durch die Abgesenkte Umsatzschwelle für Arzneimittel zur Behandlung seltener Leiden, sog. Orphan Drugs, deren Überschreiten zur Einreichung eines Nutzenbewertungsdossiers verpflichtet, von bisher 50 Mio. Euro auf 30 Mio. Euro pro Jahr dazu geführt haben, dass der deutsche Markt für eben diese Medikamente weniger attraktiv geworden ist. Der DAK AMNOG-Report zeigt, dass mit zehn Orphan Drugs so viele wie nie zuvor einer vollständigen Nutzenbewertung unterzogen worden sind. Gleichzeitig stehen auch diese Medikamente nach wie vor sehr früh und uneingeschränkt für die Patientenversorgung zur Verfügung.
Leitplanken und Ihre Auswirkungen
Eine weitestgehende Abkehr von der bisherigen AMNOG-Logik ist mit der Einführung der sogenannten „Leitplanken“ für die zu verhandelnden Erstattungsbeträge erfolgt, nach welchen zukünftig neue Preisobergrenzen in Abhängigkeit der zweckmäßigen Vergleichstherapie (zVT) und des Ergebnisses der Nutzenbewertung gelten. Besonders werthaltige neue Arzneimittel sollten so belohnt werden. Kritisch diskutiert wurde eine mögliche Abwertung von Schrittinnovationen. Im Rahmen des Medizinforschungsgesetzes wird derzeit diskutiert, die eingeführten Leitplanken wieder abzuschwächen und mit klinischen Forschungsinitiativen pharmazeutischer Unternehmer zu verknüpfen. Eine Idee mit zweifelhaftem Nutzen, zeigt doch der DAK-AMNOG-Report, dass der Schuh aktuell an zwei anderen Stellen drückt:
- Die Ausgaben für hochpreisige Arzneimittel im Krankenhaus sind bislang ein relevanter gesundheitspolitischer Blinder Fleck. Auf über 1,2 Milliarden Euro belaufen sich diese Ausgaben inzwischen pro Jahr (Kernergebnis 2) – und das trotz regulativer Maßnahmen wie einem erhöhten Herstellerabschlag. Dieser ist inzwischen wieder geplant ausgelaufen, weshalb auch zukünftig mit weiteren Ausgabenzuwächsen für hochpreisige Arzneimittel in Kliniken zu rechnen ist. Das mehr Transparenz über diese Ausgabenentwicklungen dringend erforderlich ist, zeigt der DAK-AMNOG-Report.
- Die geplante Einführung eines pauschalen Abschlags in Höhe von 20 % auf Kombinationstherapien ist bislang nicht umgesetzt. Hintergrund ist ein Streit über die konkrete Ausgestaltung. Dabei geht es um die vermeintlich triviale Frage, wann die Abgabe von zwei potenziell kombinierbaren Arzneimitteln eine Kombinationstherapie ist. Über diese Frage und wie man entsprechende Patienten mit Kombinationstherapien in Abrechnungsdaten möglichst sicher identifizieren kann, konnte zwischen den Vertragsparteien aus GKV und pharmazeutischer Industrie kein Konsens hergestellt werden, so dass das Bundesministerium für Gesundheit im Mai 2024 einen Umsetzungsvorschlag vorgelegt hat. Der DAK-AMNOG-Report zeigt erstmalig auf Basis von Abrechnungsdaten, dass dieser vorgeschlagene Algorithmus nicht in der Lage ist, die mit dem GKV-FinStG formulierten jährlichen Einsparziele in Höhe von bis zu 185 Millionen Euro zu erreichen (Kernergebnis 3). Eine Schwäche liegt in dem bislang nicht vorgesehenen Einbezug von Arzneimittelumsätzen im Krankenhaus. Die Analysen des AMNOG-Reportes zeigen, dass kann 10 % aller Patienten mit onkologischer Kombinationstherapie ausschließlich im Krankenhaus behandelt werden. Die dabei entstehenden Kosten werden nicht in die Berechnung des Abschlages auf Kombinationstherapien einbezogen.
Kernergebnisse als Grafiken
Kernergebnis 1
Die Ausgaben für patentgeschützte Arzneimittel (in Mrd. Euro) sind auf ein Allzeithoch und überproportional gestiegen
Kernergebnis 2
Die Ausgaben für patentgeschützte Arzneimittel befinden sich trotz ausgabensenkender politischer Maßnahmen im Jahr 2023 auf einem Allzeithoch
Kernergebnis 3
Der bislang noch nicht umgesetzte Abschlag auf Kombinationstherapien könnte derzeit bis zu 99 Millionen Euro jährlich einsparen. Das Einsparziel von 185 Millionen Euro jährlich wird jedoch auf absehbare Zeit verfehlt. Dies liegt unter anderem daran, dass gut ein Drittel aller Patientinnen und Patienten, die möglicherweise eine Kombinationstherapie erhalten (innerhalb von 6 Monaten), nicht erfasst werden. In der Onkologie werden beispielsweise mehr als 10 % aller Kombinationstherapien stationär eingesetzt.
Beschreibung der Autoren
Prof. Dr. Wolfgang Greiner
Prof. Dr. Wolfgang Greiner (* 1965) ist Inhaber des Lehrstuhls für „Gesundheitsökonomie und Gesundheitsmanagement“ an der Universität Bielefeld. Von 2010 bis 2023 war er Mitglied im Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen beim Bundesgesundheitsministerium. Er gehört zudem den wissenschaftlichen Beiräten verschiedener Krankenkassen, des Bundesamtes für Soziale Sicherung zur Weiterentwicklung des Risikostrukturausgleiches an.
Prof. Josef Hecken
Prof. Josef Hecken ist seit 2012 unparteiischer Vorsitzender des Gemeinsamen Bundesausschusses; seit 2015 zugleich auch Vorsitzender des Innovationsausschusses beim Gemeinsamen Bundesausschuss. Der studierte Jurist war zuvor an verschiedenen Stellen und Positionen in der Gesundheitspolitik und der Ministerialverwaltung tätig – u. a. war er Staatssekretär im Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend in Berlin, Präsident des Bundesversicherungsamtes (heute Bundesamt für Soziale Sicherung) in Bonn und zuvor Landesminister für Justiz, Gesundheit und Soziales im Saarland. Seit 2018 nimmt er Lehraufträge an der Leibniz Universität Hannover und der Medizinischen Fakultät Heidelberg wahr, außerdem ist er Dozent im Masterstudiengang Pharmarecht an der Philipps-Universität Marburg.
Prof. Dr. med. Jörg Ruof
Jörg Ruof studierte Medizin (Universität Witten/Herdecke), Public Health (Medizinische Hochschule Hannover) und Ökonomie (Edinburgh Business School). Er hat eine außerplanmäßige Professur für „Health Outcomes & Management‘“ an der Medizinischen Hochschule Hannover und verfügt über 20 Jahre Führungserfahrung in „Big Pharma“. Seine Kernkompetenz liegt im Bereich Market Access Strategy. Er ist Autor von mehr als 70 wissenschaftlichen Publikationen. 2017 gründete er r-connect, eine strategische Beratungsorganisation mit Sitz in Basel, Schweiz. Seit 2018 ist er Co-Leiter der „Deutschen Plattform zur Nutzenbewertung“. 2021 gründete er die „European Access Academy“, EAA.
Andreas Storm
Andreas Storm ist seit 2016 stellvertretender Vorsitzender des Vorstandes der DAK-Gesundheit und seit Anfang 2017 Vorsitzender des Vorstandes. Hier verantwortet er die Ressorts Finanzen und Unternehmenssteuerung. CDO und CCO berichten an ihn sowie die zentralen Stabseinheiten. Zuvor war Andreas Storm insgesamt 15 Jahre Mitglied des Deutschen Bundestages, Staatssekretär auf Bundesebene und Landesminister im Saarland.
Auf ein Wort
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AMNOG-Report 2024
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Datengrundlage und Methodik
Darauf basiert der AMNOG-Report 2024
Die Analysen im vorliegenden Report basieren auf drei zentralen Datenquellen:
- AMNOG-Verfahrensdaten (insb. zu differenzierten Teilpopulationen, Vergleichstherapien und Bewertungsergebnissen) aus den öffentlich bereitgestellten Beschlüssen und Verfahrensunterlagen des Gemeinsamen Bundesausschusses
- Preis- und Erstattungsbetragsdaten zu AMNOG-Arzneimitteln gemäß Lauer-Taxe
- Abrechnungsdaten der DAK-Gesundheit zu Inanspruchnahme und Kosten von AMNOG-Arzneimitteln
Zur Abschätzung kurzfristiger Ausgabenentwicklungen von Arzneimitteln in der GKV werden zusätzlich Marktdaten des Datendienstleisters IQVIA für den Report herangezogen.
Die anderen drei Datenquellen werden je nach Analysestrang in eine gemeinsame Datenbank- und Analyselogik überführt. Die genutzten Abrechnungsdaten stellen eine Vollerhebung des Leistungsgeschehens aller bei der DAK-Gesundheit versicherten Personen dar. Für das Jahr 2023 entspricht dies einer Stichprobe von rund 7,6 % aller Versicherten in der GKV. Für die Abschätzung der Effekte des GKV-FinStG werden alle zu Abrechnungszwecken dokumentierten Leistungsdaten aus der Arzneimittelversorgung (§ 300 Abs. 1 SGB V) genutzt. Für die Analyse der Arzneimittelkosten im Krankenhaus werden zudem die Leistungsdaten (abgerechnete NUB- und Zusatzentgelte) aus der stationären Versorgung (§ 301 Abs. 1 SGB V) berücksichtigt. Die Daten geben Auskunft über die zulasten der DAK-Gesundheit abgerechneten Arzneimittel. Nicht berücksichtigt werden folglich individuelle Gesundheitsleistungen oder sonstige privat abgerechnete Leistungen, die nicht von der GKV erstattet werden.
Um die für die DAK-Gesundheit ermittelten historischen Einsparpotenziale in Relation zu den vom Gesetzgeber formulierten GKV-weiten Einsparzielen des GKV-FinStG zu setzen, erfolgt eine Hochrechnung auf GKV-Ebene. Diese Hochrechnung basiert auf dem Ausgabenanteil der DAK-Gesundheit an allen Arzneimittelausgaben in der GKV. Dieser lag im Jahr 2023 bei 9,3 %. Kosten in Höhe von 1 € zulasten der DAK-Gesundheit würden somit hochgerechneten Kosten auf GKV-Ebene in Höhe von 10,76 € (= 1 €/9,3 %) entsprechen. Bei der Analyse der Arzneimittelkosten im Krankenhaus wird ferner davon ausgegangen, dass der Anteil der DAK-Gesundheit an den (ambulanten) Arzneimittelkosten der gesamten GKV weniger geeignet ist zur Approximation der Kostenentwicklung auf GKV-Ebene. Daher erfolgt die Hochrechnung im Rahmen dieser Analyse auf Basis des jahresspezifischen Anteils der Versicherten der DAK-Gesundheit an allen GKV-Versicherten.